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Die Mehrdeutigkeit balancieren

„Kunst muss mehrdeutig sein und falsch verstanden werden können! Sonst ist es Quatsch, sonst ist es eine Petition!!!“ Benjamin von Stuckrad-Barre

(c) pixabay

Als ich für meine letzte Kolumne das Thema Widersprüchlichkeit wählte, hatte ich mir schon Gedanken zu diesem Thema gemacht. Beide sind miteinander verwandt, haben Parallelen und doch sind sie unterschiedlich.

Der Mehrdeutigkeit, Ambiguität, liegt die Idee zu Grunde, dass Dinge, Handlungen, Sichtweisen, mehrere, unterschiedliche und auch gegensätzliche Bedeutungen haben können, ja sogar haben sollen. Es ist die Idee dem Leben Mystik zu geben in einer Welt, die nach Eindeutigkeit strebt. Das Wesen der Religion ist nach der Wahrheit zu streben, die Wahrheit zu kennen und sie zu verkünden. Das Wesen der Philosophie ist es über Wahrheiten nachzudenken, sie zu hinterfragen und neue Wahrheiten zu erschaffen.

Ambiguität schafft aber den Raum im Denken, dass mehr möglich ist. Wir kennen aus dem Sprachgebrauch Redewendungen wie: „Segen und Fluch zugleich, ein Gefühl ist kalt/warm, Lust-Angst, Wonne-Schmerz“ etc. Gleichzeitig erleben wir aber ein Streben nach Eindeutigkeit. Schwarz/Weiß, Gut/Böse, Oben/Unten, Klima, Flüchtlinge, Gendern, Geimpft/Nichtgeimpft (gerade unser aktueller, pandemischer Gesellschaftsdiskurs findet nur in der Reduzierung und Vereindeutlichung statt).

Die Psychologie kennt den Begriff der “Ambiguitätstoleranz” (im Englischen „ambiguity“), hier wird die Fähigkeit beschrieben, Unsicherheiten oder Mehrdeutigkeiten nicht nur auszuhalten, sondern sie auch konstruktiv zu verarbeiten. Die Psychologin Else Frenkl-Brunswick definierte es als eine messbare Fähigkeit die Koexistenz von positiven und negativen Eigenschaften in ein und demselben Objekt wahrnehmen zu können. Ambiguitätstoleranz wird schon in der Kindheit angelegt und gelernt, so lernt das Kleinkind es auszuhalten, dass die Mutter nicht immer bedingungslos zur Verfügung steht, nicht immer ist die Bedürfnisbefriedigung unmittelbar möglich und doch wird das Kind die Mutter bedingungslos weiter lieben. Das Kind lernt mit der Mehrdeutigkeit zu leben.

Für uns als Erwachsene bedeutet es mehr Fragen zu stellen, als uns mit schnellen Antworten zufrieden zu geben. Eine globale vernetzte Welt mit ihren komplexen Fragestellungen, lässt sich nicht vereinfacht erklären, schon gar nicht im Schwarz/Weiß-Denken.

Der deutsche Pädagoge und Soziologe Lothar Krappmann beschreibt diesen Dialog als Balance zwischen der Ich Identität (wer ich bin) und der sozialen Identität (welche Erwartungen es an mich gibt). Worum es dabei geht, ist den Widerspruch – die Mehrdeutigkeit – auszuhalten und sie als Quelle der eigenen Entwicklung zu sehen, Fragen zu stellen und Antworten als Möglichkeit und nicht als Wirklichkeit zu sehen.

Euer Michl Schwind


Kurzbiografie Michl Schwind

Geb.: 17.08.1961

Ausbildungen und Qualifikationen:
– Sozialpädagoge
– Organisationsentwickler
– Trinergy®– NLP Lehrtrainer
– ICF Coach
– Strategisch-systemischer Kurzzeittherapeut

Menschen haben mich immer schon fasziniert. So arbeitete ich seit 20 Jahren als Sozialpädagoge und habe hier die Basis meiner psychosozialen Kompetenz entwickelt. 10 Jahre davon war ich als verantwortlicher Leiter und Führungskraft in unterschiedlichen Einrichtungen und Projekten tätig. Seit dem Jahr 2000 bin ich selbstständiger Coach, Teamtrainer und Organisationsentwickler. In dieser Zeit konnte ich bei namhaften österreichischen und internationalen Unternehmen zu deren positiver wirtschaftlicher und personeller Entwicklung beitragen.